Joachim Sieglen: "Wolga-Benkö-Gambit"

von Uwe Bekemann (Kommentare: 0)

Joachim Sieglen
Wolga-Benkö-Gambit
215 Seiten, kartoniert
ISBN: 978-3-931192-41-9
18,00 Euro

Als ich das Werk „Wolga-Benkö-Gambit“, geschrieben von Dr. Joachim Sieglen und 2020 erschienen im Schachverlag Kania, spät im Jahr 2021 zur Rezension erhielt, war mein Interesse sogleich erweckt. Dies lag nicht nur an dem interessanten Thema, sondern auch daran, dass sich der Verlag m.W. weitgehend als Herausgeber von neuen Büchern zurückgezogen hatte. Also musste Sieglens Arbeit sehr überzeugend auf ihn gewirkt haben. Genau dies bestätigt der Herausgeber dann auch in einem eigenen Vorwort.


Nachdem ich mich intensiv mit Wolga-Benkö-Gambit“ befassen konnte, habe ich mir vor dem Hintergrund, dass es „irgendwie anders“ als andere Bücher ist, die Frage gestellt, welche Eindrücke sich am tiefsten bei mir eingestellt haben. Diese sind:

  • Wolga-Benkö-Gambit stellt die Theorie zum Thema neu zusammen und stellt Theorie neu auf, wobei es einer Zäsur im Zusammenhang mit einem strategischen Leitgedanken folgt.
  • Das Werk ist charismatisch.
  • Es arbeitet das Thema sehr sauber und ehrlich auf.
  • Es ist – auch im konzeptionellen Vorgehen – gut strukturiert. So zeigt jedes Kapitel zunächst die strategischen Leitgedanken auf, so dass dem Leser von Beginn an der rote Faden durch die Varianten an die Hand gegeben wird.
  • In der Gestalt des Buches ist die angebotene Theorie geprägt von einer tiefen praktischen Erfahrung des Autors mit den einzelnen Spielweisen, seiner Vorbereitung auf deren praktischen Einsatz und seiner Suche nach Verbesserungen sowie seiner kritischen Auseinandersetzung mit den Einschätzungen und Empfehlungen anderer Autoren.
  • Der Autor hat sein Positionsverständnis sowie seine Analysefähigkeit um die Rechenkompetenz des Computers ergänzt, wobei er nicht auf Engines der jüngsten Generation zurückgegriffen hat. Tücken des Engine-Einsatzes ist er dadurch begegnet, dass er besonders sorgfältig vorgegangen ist, indem er ihm nicht genügend Sicherheit vermittelnde Ergebnisse immer wieder neu auf den Prüfstand gestellt hat.

Nachstehend versuche ich darzustellen, womit sich diese Eindrücke begründen, soweit sich dies nicht bereits aus der Aufstellung ergibt.

Die Zäsur in der Bewertung eines strategischen Leitgedankens betrifft das erste von insgesamt sieben Buchkapiteln direkt („Die erste Hauptvariante: Weiß schlägt auf b5/a6 und spielt e2-e4“) und hat auch einen großen Einfluss auf das zweite Kapitel („Die zweite Hauptvariante: Weiß fianchettiert seinen Königsläufer“). Sieglen gibt als Hauptvariante in neuer Form die Zugfolge 1.d4 Sf6 2.c4 c5 3.d5 b5 4.cxb5 a6 5.bxa6 g6 6.Sc3 und nun 6...Lg7 7.e4 0–0 8.Sf3 Da5 9.Ld2 Lxa6 an („frühere Hauptvariante: 6...Lxa6 7.e4 Lxf1 8.Kxf1 d6 9.g3 Lg7 10.Kg2 0–0 11.Sf3 Sbd7). Die Änderung charakterisiert er als „regelrechten Paradigmenwechsel" und schreibt dazu: „Seit 2015 hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Diagonale f1–a6 nicht dazu verwendet werden sollte, dem Weißen die Rochade zu nehmen (...La6xf1), zumal die künstliche Rochade für Weiß in keiner Weise ein Problem ist. Vielmehr hat man erkannt, dass die Diagonale f1–a6 dazu benutzt werden kann, zunächst die Läufer und dann noch die Damen zu tauschen. Der Damentausch ist im Wolga-Gambit sehr oft günstig für den Schwarzen - insbesondere wenn Schwarz für die Herbeiführung des Damentauschs keine Tempi opfern bzw. anderweitige in Kauf nehmen muss."

Sieglen befasst in den Kapiteln 1 und 2 mit der Theorie in Folge der genannten Zäsur auf der Basis der „neuen“ Hauptvariante.

Die Kapitel 3 bis 7 behandeln Systeme, mit denen Weiß der Hauptvariante aus dem Weg gehen kann. Sie sind – unter Verwendung der Überschriften – wie folgt im Werk platziert:

  • Kapitel 3: Die Saitzew-Variante (Anmerkung: mit 5.Sc3 eingeleitet)
  • Kapitel 4: Weiß spielt 5.e3
  • Kapitel 5: Weiß spielt 5.f3
  • Kapitel 6: Weiß spielt 5.b6
  • Kapitel 7: Weiß verzichtet auf 4.c:b5.

In seinem ausführlichen Vorwort setzt Sieglen „Wolga-Benkö-Gambit“ mit anderen Veröffentlichungen in Beziehung. Spezifisch geht er auf „The Modernized Benko Gambit“ von Perunovic ein. Die Chessbase-DVD „The Benko Gambit Explained“ l´Ami erklärt er vor dem Hintergrund des og. Paradigmenwechsels als veraltet bzw. unvollständig, auch wenn sie aus 2020 stammt. Aufgrund der Entwicklung der Theorie ab 2015 sind die bis dahin erschienenen Werke entsprechend nach seiner Einschätzung nicht mehr auf Stand.

Sehr ausführlich fällt sein Vergleich mit dem Buch von Perunovic aus, das er offenkundig sehr schätzt. Er zeigt zahlreiche und wichtige Unterschiede zu seiner Arbeit auf, die beide Bücher nebeneinander für den Leser interessant machen.

Demjenigen, der mehr über Unterschiede und Verzahnungen der beiden Werke erfahren möchte, ist Sieglens Vorwort sehr zur Lektüre vorab zu empfehlen. Er vergleicht beide Arbeiten so ausführlich und detailliert, wie es kein Rezensent tun kann, wenn er den Rahmen nicht sprengen möchte. Diese Passage spricht besonders auch den Insider sowie denjenigen an, der das Perunovic-Werk bereits besitzt und den zusätzlichen Kauf des hier besprochenen Buches erwägt.

Während Sieglen „Wolga Benkö-Gambit“ zu Recht selbstbewusst in die Reihe der Veröffentlichungen zur Eröffnung platziert, tritt er persönlich eher bescheiden auf. Als ehemaliger Spieler in der 1. und 2. Bundesliga sowie Sieger mehrerer regionaler Titel hat er seine Qualität als Spieler unter Beweis gestellt, das aus seiner Praxis und seiner Theorieküche stammende Material verdient Vertrauen. Seine im Buch angegebene Elo-Zahl von 2150 hat er inzwischen wieder auf aktuell 2169 gesteigert (Rapid 2228).

Sieglen propagiert „seine“ Spielweisen nicht, sondern stellt sie nach meinem Gefühl sachlich und ehrlich dar. Seine Ausführungen sind ein sauberer Mix aus nach dem Baumprinzip organisierten Varianten und Nebenvarianten, die ganz überwiegend erläutert und begründet werden. Zumeist gibt er an, womit sich seine Einschätzung begründet, so dass der Leser nachvollziehen und auch hinterfragen kann. Varianten bestehen oft aus eigenen Analysen, die rechnergestützt überprüft worden sind, wobei er die Engine bisweilen auch bezeichnet. Weitere Varianten sind Fragmente aus Turnierpartien.

Zahlreiche Diagramme visualisieren entscheidende Phasen von Varianten und helfen bei der Aufstellung oder Eingabe einer Stellung auf dem Brett oder in den Computer.

Die Hauptvarianten sowie die Nebenvarianten erster Ordnung sind in Fettdruck abgebildet, die Hauptvarianten aber in einer größeren Schrift. So ist es nicht schwer, die Orientierung bei der Arbeit zu bewahren, zumindest wenn man sich an die Schriftgröße als Unterscheidungsmerkmal gewöhnt hat.

Bei der Vorbereitung dieser Rezension hat mich auch interessiert, wie Sieglen sich zu Empfehlungen Boris Awruchs positioniert. Dessen Repertoirebücher aus der Serie „Grandmaster Repertoire“ zähle ich mit zu dem Besten, was man sich als Schachfreund anschaffen kann (hier: Dynamic System, 2019). Ich habe mich hier exemplarisch an dessen Empfehlung 15.Lg5 in der Variante 1.d4 Sf6 2.c4 c5 3.d5 b5 4.cxb5 a6 5.bxa6 g6 6.Sc3 Lg7 7.e4 0-0 8.a7 Txa7 9.Sf3 e6 10.Le2 exd5 11.exd5 d6 12.0-0 Sa6 13.Sb5 Td7 14.Lc4 Lb7 orientiert. Sieglen empfiehlt nun 15…Da8, was Awruch (Seite 320) zugunsten von 15…h6 nur als Nebenvariante betrachtet. Im Ergebnis kommt er überzeugend und mit aktuellen Engines überprüfbar zu einer Verbesserung für Schwarz gegenüber Awruch.

Ein ausgezeichnetes Variantenverzeichnis auf den letzten Seiten des Buches rundet den guten Gesamteindruck, den „Wolga-Benkö-Gambit“ macht, ab.

Fazit: „Wolga-Benkö-Gambit“ ist ein sehr gelungenes Repertoirebuch, das aktuelle und neue Theorie ausführlich zusammenstellt und diese auch zugleich erweitert. Es ist aus der Warte von Schwarz geschrieben, aber in den Werturteilen um Objektivität und Neutralität bemüht. Im Rahmen der Entscheidungen, die der Autor zum Repertoire von Schwarz gibt, ist das Werk auch für das Spiel mit Weiß eine gute Informationsgrundlage.

In seinem Vorwort setzt der Autor seine Arbeit inhaltlich mit anderen aktuellen Veröffentlichungen in Beziehung. Diese Informationen können auch für denjenigen interessant sein, der über eine Anschaffung des Buches als Ergänzung oder Auffrischung seines Repertoires nachdenkt.

Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise vom Verlag Kania (www.kaniaverlag.de) zur Verfügung gestellt.

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