Igor Zaitsev: "Attacking the Strongpoint"
von Uwe Bekemann (Kommentare: 0)
Igor Zaitsev
Attacking the Strongpoint
240 Seiten, kartoniert
ISBN: 978-1-949859-13-3
24,95 Euro
Bei „Attacking the Strongpoint“ von GM Igor Zaitsev, Russell Enterprises 2020, handelt es sich um eine (erweiterte) Übersetzung der 2004 in russischer Sprache erschienenen ersten Ausgabe des Werkes.
Zaitsev ist als kreativer Kopf im Schach bekannt. Von ihm stammen einige herausragende Eröffnungsideen, so beispielsweise die Zaitsev-Variante in der Spanischen Partie. Einen großen Namen erworben hat er sich auch als Trainer und Betreuer. Die früheren Weltmeister Tigran Petrosjan und Anatoli Karpov zählen zu den bekanntesten Spielern, die sich seiner Unterstützung bedient haben.
„Attacking the Strongpoint“ gibt dem Leser einige Rätsel auf. Diese beginnen bereits mit dem Buchtitel. In mir hat er die Erwartung ausgelöst, ein Spezialwerk zur Spielführung durch den Angriff gegen den starken Punkt des Gegners aufzuschlagen. Dies aber ist es nicht. Dem Inhalt näher kommt da schon der Untertitel „The Philosophy of Chess“, denn tatsächlich befasst sich das Buch eher mit allgemeinen Aspekten des Schachspiels an sich, mit quasi einer Grundordnung oberhalb der Regeln, konkreten Spielpläne etc. Bisweilen scheint ein Buchtitel „Was ist Schach?“ geeigneter gewesen zu sein.
Tatsächlich hat Zaitsev sich, wie er im Vorwort angibt, im Manuskriptstadium die Frage nach dem geeigneten Buchtitel gestellt. Gedacht hatte er demnach auch an Titel wie, sinngemäß übersetzt, „Die Philosophie der Kombination“ oder „Die Geometrie der Strategie“.
Der thematische Kern des Werkes sind 7 Kapitel mit den folgenden, sinngemäß ins Deutsche übersetzten Überschriften:
- Kap. 1: Kombinationen
- Kap. 2: Strategie und Struktur/Aufbau
- Kap. 3: die Rolle der Vernunft und des Urteilsvermögens
- Kap. 4: Angriff gegen den starken Punkt (Anmerkung: Dieses Kapitel trägt den Buchtitel auch als Überschrift)
- Kap. 5: Die Regel der Aufrechterhaltung des Vorteils
- Kap. 6: Die Philosophie der Strategie – Teil 1
- Kap. 7: Die Philosophie der Strategie – Teil 2.
Dem schließen sich 10 weitere Beiträge an, die sich schwer kategorisieren lassen. Ich möchte sie teilweise als Aufsätze des Autors zu verschiedenen Themen, die sich zwar inhaltlich in das Werk eingliedern lassen, aber vor und nach der Erstveröffentlichung der russischen Originalausgabe des Buches erschienen sind, bezeichnen. Zu einem anderen Teil sind sie eher autobiografischer Natur, so wie etwa ein Beitrag mit der Überschrift „A Brief Autobiography“ wie auch „Supplemental Games with Notes“ (von Zaitsev kommentierte eigene Partien, die für sein Schachverständnis eine gehobene Rolle gespielt haben sollen). Zusätzlich hier zu finden sind aber auch ergänzende Beiträge anderer Autoren, für die Igor Zaitsev den Kristallisationspunkt bildet, eine Sammlung von Gedichten, die der Autor selbst verfasst hat, sowie ein Nachwort.
Vermutlich werden beim Lesen dieser Passage meiner Rezension weitere Rätsel, die das Buch aufgibt, deutlich geworden sein. So wird nicht ganz klar, warum das 4. Kapitel seine Überschrift mit dem Buchtitel teilt. Auch ist das Konzept für das Werk, ist der rote Faden nicht so ganz auszumachen.
Nicht nur zufällig ist schon mehrfach begrifflich die Philosophie angesprochen worden. Zaitsevs genereller Ansatz in diesem Werk ist die Betrachtung, die Thematisierung des Sinns und Zwecks im Handeln der im Schachspiel streitenden Parteien. Er will das Augenmerk auf das Wesen des Schachspiels richten, auf innere Zusammenhänge oberhalb dessen, was die Fertigkeiten des Spielers ausmacht. Hierzu unterscheidet er ausdrücklich zwischen Verständnis und die Spielstärke bestimmende Fähigkeiten („skills“). Um seinen Ansatz verstehbarer zu machen, füge ich ein kleines Beispiel für seine Ausführungen als Zitat ein, sinngemäß ins Deutsche übersetzt. Es ist auf Seite 144 zu finden. Dort schreibt er: „Eine Schachpartie besteht immer aus dem Konflikt zweier entgegengesetzter Seiten, die nach unterschiedlichen strategischen Grundsätzen handeln. Die stärkere Seite versucht den Gegner unter Einsatz aller Ressourcen in die Niederlage zu zwingen; die schwächere Seite kämpft ums Überleben. Daraus folgend ist die Strategie im Schach eng verbunden mit der enzyklopädischen Definition von Kriegsstrategie.“
Unter diesem gedanklichen Dach, das der Autor entsprechend weiter ausbaut, entwickelt er unter ebenfalls wieder „philosophischen“ Ansätzen die Verbindung zur Schachstrategie und auch zu einzelnen Elementen der Spielführung. Seine Gedanken nimmt er grundlegend auf, so dass ich bisweilen, um es vergleichend auszudrücken, das Gefühl hatte, Zaitsev orientiere sich an der Frage „was sind die Bausteine des Lebens?“. Auch hierzu ein sinngemäß übersetztes Beispiel, zu finden auf Seite 125: „In der Startstellung sind die beiderseitigen statischen Stärken natürlich gleich. Dynamisch aber hat Weiß einen kleinen Vorteil, nämlich jenen des Zugrechtes. (…) Mit beispielsweise 1.e4 oder 1.d4 wandelt er diesen in einen Raumvorteil um“. Aus diesem Ansatz heraus entwickelt Zaitsev eine beispielhafte Beschreibung, wie Weiß zu einer vorteilhaften Stellung mit besseren Chancen kommt.
Dieses (Schach-)„Verständnis“ unterliegt nach Zaitsevs Ausführungen auch dem Geist der Schach-Ära. So veränderte und entwickelte es sich in den inzwischen vielen Jahren des praktischen Turnierspiels und wird auch zukünftig einem Wandel unterlegen sein.
„Attacking the Strongpoint“ ist für einen Fremdsprachler wie mich nicht leicht zu lesen. Die Ansprüche an die Englischkenntnisse möchte ich als durchaus überdurchschnittlich bezeichnen. In einer ausländischen Quelle las ich eine kritische Einschätzung zur Qualität der Übersetzung, die ich aber nicht verifizieren kann.
Fazit: Die Prüfung des Werkes „Attacking the Strongpoint“ lässt mich zu einem ambivalenten Urteil kommen. Wer sein Verständnis des Schachspiels über eine Art philosophischer Betrachtung seiner Zusammenhänge und Elemente erden und unterfüttern möchte, findet darin viel Stoff zum Nachdenken und zum Aufbau eines Gedankengerüsts. Wer sich für Igor Zaitsev als große Persönlichkeit des Schachs interessiert oder Sammler ist, wird ebenfalls mit dem Buch zufrieden sein.
„Attacking the Strongpoint“ ist eher ungeeignet für den Spieler, der auf der Basis einer konkreten Anleitung seine Spielstärke in strategischer oder taktischer Hinsicht stärken möchte.
Die Anforderungen an die Fremdsprachenkenntnisse sind höher als bei den meisten von mir bisher rezensierten Schachbüchern einzuschätzen.
Das Rezensionsexemplar wurde freundlicherweise von der Firma Schach E. Niggemann zur Verfügung gestellt.
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